Nikolai Andrejewitsch Roslawez (russisch Николай Андреевич Рославец; * 23. Dezember 1880jul. / 4. Januar 1881greg. in Surasch, Gouvernement Tschernigow, Russisches Reich; heute Oblast Brjansk; † 23. August 1944 in Moskau) war ein russischer Komponist, Musiktheoretiker, Publizist, Pädagoge und Geiger.
Roslawez war einer der ersten Komponisten, die für eine Neue Musik in Russland eintraten. Er fühlte sich zugleich neuen musikalischen Ideen wie der Bewahrung der Tradition verpflichtet und geriet deswegen mit den „proletarischen Musikern“, d. h. mit der sowjetischen Geheimpolizei verbundenen offiziellen Kulturideologen in Konflikt, was zu einem Berufsverbot führte. Mehrere Jahrzehnte lang gilt Roslawez als „Volksfeind“ und gehörte zu den verfemten Komponisten Russlands.
Anfangs von Alexander Skrjabin und den zeitgenössischen Franzosen (Debussy und Ravel) inspiriert, löste sich Roslawez bald von deren Einflüssen und entwickelte seine eigene Tonsprache, die oft mit Arnold Schönbergs Zwölftontechnik verglichen wird, jedoch von anderen Grundsätzen ausgeht. Seit etwa 1917 ist in seinem Schaffen ein gewisser Hang zu den traditionellen Formen und Gattungen sowie zum Monumentalen zu erkennen, wobei die Tonsprache im Sinne des „akademischen Neuerertums“ (Leonid Sabanejew) transparenter wird und traditionelle Strukturen einschließt. Diese Tendenz zeigt sich in verschiedenen Werken, darunter in der Symphonie de chambre pour 18 instruments solistes (1934/35), in der klassische und moderne Prinzipien auf ganz neue Weise miteinander verbunden werden.
In den späten 1890er Jahren zog seine Familie nach Kursk. Hier erhielt er an der Musikschule bis 1902 Unterricht bei Arkadi Maksimowitsch Abasa, und zwar in den Fächern elementare Musiktheorie, Harmonielehre, sowie Klavier und Violine.[1] Bis 1912 studierte er Komposition bei Sergei Wassilenko, Musiktheorie bei Alexander Iljinski / Michail Ippolitow-Iwanow und Violine bei Jan Hřímalý (Iwan Wojzechowitsch Grshimali) am Moskauer Konservatorium. Für seine Diplomarbeit erhielt er die große Silbermedaille. Roslawez trat in den Kreis der Zeitgenossen um Wladimir Derschanowski, Leonid Leonidowitsch Sabanejew, Nikolai Mjaskowski u. a. ein, einen Kern der zukünftigen Assoziation zeitgenössischer Musik (ASM). 1917 wurde er Mitglied der nicht-marxistischen Partei der Sozialisten-Revolutionäre (SR), aus der er schon 1918 wieder austrat. In Moskau organisierte daraufhin zusammen mit „Genosse Sax“ die Partei Narodniki (Volkstümler)-Kommunisten, die bald in der Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewiki) RKP(b) aufging. Ab 1919 war er einer der ASM-Führer. 1921 trat Roslawez aus der RKP aus. Er war in den 1920er Jahren in der Redaktion des Moskauer Staatlichen Musikverlages tätig. 1920 übersiedelte er nach Charkow, wo er 1921 Professor an der dortigen Musikakademie und später am Musikinstitut wurde, er wurde auch Rektor des Charkower Musikinstituts. Wegen angeblicher „formalistischer“ und klassenfeindlicher Betätigung wurde ihm ein Berufsverbot erteilt. 1931 zog er von Moskau nach Taschkent und wurde dort Leiter, Dirigent und Komponist des Musiktheaters, bevor er 1933 nach Moskau zurückkehrte.
Bald nach dem Tod des Komponisten haben die Vertreter des KGB in Begleitung von ehemaligen proletarischen Musikern Roslawez’ Wohnung durchsucht und die Manuskripte des Komponisten beschlagnahmt. Es gelang jedoch Roslawez’ Witwe, einen Teil des Erbes zu verstecken; später übergab sie ihn an das ZGALI (Zentrales staatliches Archiv für Literatur und Kunst, Moskau; heutzutage: RGALI – Russisches staatliches Archiv für Literatur und Kunst). Einige Manuskripte des Komponisten wurden von Roslawez’ Lieblingsschüler, dem Komponisten P. Teplow aufbewahrt; heutzutage befinden sie sich im Staatlichen zentralen Glinka-Museum für musikalische Kultur. Teplow zufolge suchten die Feinde des Komponisten nach Roslawez’ Tod seine Manuskripte, um sie zu zerstören.[2]
1967 hat die Nichte des Komponisten, Jefrossinja Fjodorowna Roslawez, die ersten Schritte zur Rehabilitierung ihres Onkels unternommen, dank denen es gelang, festzustellen, dass der Komponist Opfer politischer Repressalien war. Der wichtige Schritt – die Absage, die Werke Roslawez’ aufführen zu lassen, wurde dadurch gerechtfertigt, dass Roslawez angeblich zu „den verhafteten Volksfeinden“ zählte, – hat die Lage kaum gebessert: Das Schaffen von Roslawez wurde weiter totgeschwiegen. 1967 verweigerte der Mitarbeiter des Glinka-Museums, Georgi Kirkor, Jefrossinja Roslawez Zugang zur Kartothek; Kirkor behauptete, dass Roslawez „dem Volk feindlich“ sei, und warf dem Komponisten „Beziehungen zum Weltzionismus“ vor. Diese absurde, jedoch gefährliche Anschuldigung wurde dadurch begründet, dass L. Sabanejew, ein Freund Roslawez’ und eifriger Feind der Sowjets, die jüdische Musik propagiert hatte; auch die ASM setzte sich für jüdische Komponisten ein. „Zionistischer Tätigkeiten“ wurde auch die Forscherin und Herausgeberin Roslawez’, M. Lobanova, seit Ende der 1970er beschuldigt und deswegen verfolgt, nicht zuletzt wegen ihrer Verwandtschaft zu einem der Gründer des Staats Israel. 1967 lehnten die führenden Funktionäre des Verbands sowjetischer Komponisten Wano Muradeli, Anatoli Nowikow und Tichon Chrennikow es ab, Jefrossinja Roslawez zu empfangen.[3] Die negative Attitüde zu Roslawez, kennzeichnend für die Offiziellen des Verbands sowjetischer Komponisten, prägte sich in Urteilen aus, wie etwa: „Roslawez ist unserer Feind“, „der Komponist, dessen Musik das Papier nicht wert ist, auf dem sie aufgezeichnet ist“, „Roslawez’ Grabmal muss zerstört werden“.[4]
Im Westen trat mehrere Jahrzehnte lang Detlef Gojowy (1934–2008) als überzeugter Propagandist für das Schaffen Roslawez’ auf. Für seine Tätigkeiten wurde Gojowy ständig seitens der Führung des Verbands sowjetischer Komponisten, von Tichon Chrennikow persönlich, sowie von den einflussreichen Feinden Roslawez’, deren Gesinnungsgenossen und der Zeitschrift Sowjetische Musik angegriffen. Bis 1989 war Gojowy als „kriegerischem Antikommunisten“ die Einreise in die UdSSR untersagt; die Kopien seiner Artikel, die der Publizist an seine sowjetischen Kollegen übersandte, wurden vom sowjetischen Zoll beschlagnahmt (Gojowy 2008). Infolge dieses Verbots war Gojowy gezwungen, sich häufig auf die sekundären Quellen zu stützen, die nicht immer korrekte Informationen enthalten: z. B. wurden in einigen Publikationen die Vermutungen über die ukrainische Herkunft Roslawez’ geäußert, die unkritisch von weiteren Publizisten vervielfältigt wurden: auf diese Weise entstand eine Fiktion über den Komponisten.
Am 27. Dezember 1980 fand ein Konzert mit einem Vorwort von M. Lobanova im Kammermusikklub Mark Milmans statt, wobei ein Konzertteil Roslawez gewidmet wurde. Edisson Denissow zufolge verbot die Führung des Verbandes sowjetischer Komponisten, das ganze Konzert Roslawez zu widmen. 1984 wurde der Vortrag M. Lobanovas zum musikalisch-theoretischen System Roslawez’, der im Programm der internationalen Konferenz Musica nel nostro tempo (Mailand) stand, von den führenden Funktionären des Verbandes sowjetischer Komponisten verboten: der Forscherin wurden „illegale Beziehungen zum Westen“ vorgeworfen. Weiterhin wurde versucht, Lobanova aus dem Moskauer Konservatorium zu entlassen, ihren akademischen Grad sowie Lehrrechte abzuerkennen, sowie sie in die Zwangspsychiatrie mit der Dissidenten-Diagnose „schleichende Schizophrenie“ einzuweisen.[5][6]
1989 wandte sich Jefrossinja Roslawez an die Moskauer Komponistenorganisation, die gerade ihre Unabhängigkeit von Tichon Nikolajewitsch Chrennikows Verband sowjetischer Komponisten proklamiert hatte, mit der Bitte um die Rekonstruktion und Veröffentlichung der Werke von Roslawez sowie die Wiederherstellung des Grabmals des Komponisten; diese Aufgaben wurden offiziell von Roslawez’ Nichte M. Lobanova anvertraut. 1990, nach einem langen Kampf, einschließlich krimineller Strukturen, war das Grabmal Roslawez’ dank des Einsatzes des Führers der Moskauer Komponistenorganisation, Georgi Dmitriev, nach der Aufzeichnung M. Lobanovas, autorisiert von der Nichte des Komponisten, wiederhergestellt. Später wurde das Grabmal von Roslawez erneut vernichtet, und alle Proteste von M. Lobanova gerichtet an die Moskauer Behörde, die russische Organisation für Denkmälerschütz "Archnadzor" sowie an die führenden Moskauer Journalisten, bleiben bis heute erfolglos.[7]
Im Jahr 1989 hat der Verlag Musik die Sammlung Nikolaj Roslawez. Klavierstücke (hrsg. von Nikolaj Koptschewski) veröffentlicht. Das Vorwort dieser Sammlung, die viele Druckfehler der früheren Herausgaben reproduzierte, wurde von Juri Cholopow verfasst. Der Text entsetzte Jefrossinja Roslawez: in ihren Briefen an den Direktor des Glinka-Museums sowie den Direktor des Verlags Musik und den Chefredakteur der Zeitschrift Sowjetische Musik protestierte die Nichte des Komponisten gegen die Verleumdungen, die Diskreditierung der Verwandten von Roslawez, sowie die falschen Informationen zu Roslawez’ Werken, dem Zustand der Archivmaterialien usw. Die besondere Besorgtheit J. Roslawez’ haben die falschen Behauptungen anlässlich Roslawez’ Schaffen und den Zustand der Archivmaterialien herbeigerufen: von ihrem Standpunkt, die Überlegungen über den chaotischen Zustand der Archivmaterialien und die nachlässigen Verwandten konnten zur Rechtfertigung möglichen Missbrauchs des Erbes von Roslawez eventueller Verfälschungen dienen. Nachdem man abgelehnt hatte, diese Briefe in der Sowjetunion bzw. Russland zu veröffentlichen, gelang es erst 1995 einen der Briefe Jefrossinja Roslawez’, die den Zugang zu ihren persönlichen Materialien im Glinka-Museum verboten hatte, in Deutschland zu veröffentlichen.[8] Noch heftiger hat sich der größte Kenner russischer Avantgarde, Nikolaj Iwanowitsch Chardshijew gegen Cholopows Vorwort im Brief an M. Lobanova vom 5. Dezember 1990 ausgesagt.
1989 wurde die Partitur des Ersten Violinkonzerts Roslawez’ von M. Lobanova im Archiv wiederentdeckt, die bislang als verlorengegangen galt, vor allem aufgrund der Diplomarbeit von A. Putschina, die 1981 am Moskauer Konservatorium unter der Leitung Edisson Denissows verfasst worden war. Im Auftrag des Verlags Le Chant du Monde beabsichtigte Denissow, den 1927 herausgegebenen Klavierauszug des Ersten Violinkonzerts zu orchestrieren; die Wiederentdeckung der Partitur erübrigte diesen Plan. Bald nach der Welturaufführung des 1. Violinkonzerts in Orchesterfassung durch Tatjana Grindenko unter der Leitung von Fjodor Gluschtschenko (Moskau, 18. November 1989) erschien ein Artikel in der Russischen Musikzeitung (1989, Nr. 12), der falsche Informationen zur Autorschaft jener Wiederentdeckung lieferte. Später hat die Zeitung eine Gegenerklärung veröffentlicht und ihre Entschuldigungen M. Lobanova entgegengebracht (1990, Nr. 5, S. 4).
Die geplante Welturaufführung der symphonischen Dichtung Roslawez’ In den Stunden des Neumonds, die M. Lobanova rekonstruiert hatte, wurde 1989 sabotiert: das zur Weltpremiere vorbereitete und bereits bezahlte Material verschwand spurlos aus dem Büro für Propaganda der sowjetischen Musik. Die Weltpremiere dieses Werks, das das Rundfunk-Sinfonie-Orchester Saarbrücken unter der Leitung von Heinz Holliger am 14. Juni 1990 in Saarbrücken zustande brachte, verlief in der Abwesenheit der Rekonstruktions-Autorin, der die Auslandskommission des Verbands sowjetischer Komponisten die Reise verbot, ungeachtet der offiziellen Einladung des Verlages B. Schott's Söhne (heute: Schott Music).
Obschon die Wiederentdeckung Roslawez’ sowie die anfangende Publikation seines Erbes das wachsende Interesse der breiten Öffentlichkeit sicherte, äußerten sich einige seiner Landsleute ziemlich distanziert Roslawez gegenüber, darunter die Komponisten modernistischen Schlags: so betonte Viktor Suslin in der umfangreichen Diskussion, die der Wiederentdeckung der russischen musikalischen Avantgarde gewidmet wurde (Heidelberg, am 1. November 1991), dass das Schaffen Roslawez’ für ihn persönlich „keine Bedeutung“ habe, und Jelena Olegowna Firsowa behauptete, dass sie sich für Roslawez’ Musik „nicht interessiert“ habe.[9]
Aus einem Bericht der russischen Zeitung „Kommersant-Daily“ war zu entnehmen, dass der einstige Chef-Redakteur des Moskauer Verlags „Kompositor“, Wladimir Pikul (* 1937), 1991 Jefrossinja Roslawez geholfen hatte, die Werke von Nikolaj Roslawez im Verlag Schott herauszugeben. Wladimir Pikul zufolge erhielt er für seine Hilfe Provision in der Höhe von 33500 DM, die er ins Studium seiner Kinder in Deutschland investierte. Als Tichon Chrennikov davon erfuhr, glaubte er, dass Wladimir Pikul illegal 33500 DM angeeignet habe, die dem Komponistenverband der Sowjetunion zustehen müssten. Aus diesem Grund stellte der Komponistenverband der Sowjetunion am 6. Mai 1991 eine Strafanzeige gegen W. Pikul wegen „Veruntreuung öffentlicher Gelder“ bei einer Moskauer Bezirks-Staatsanwaltschaft. Da es sich um eine große Summe in Devisen handelte und zu jener Zeit noch kein Moratorium für Todesstrafe in Russland gab, drohte diese Anklage W. Pikul die höchsten Strafmaßnahmen bis hin zur Erschießung. Ferner wurden die Ermittlungen gegen Pikul eingestellt. Im März 1992 verlange jedoch der Komponistenverband neue Ermittlungen, und ein neues Strafverfahren wurde durchgeführt, das ebenfalls eingestellt wurde. Zu jener Zeit hatte Pikul seine Stellung an Grigori Woronow (1948–2008) verloren; er ging zu Gericht und gewann zwei Gerichtsverfahren. Trotz dieser Gerichtsentscheidungen erhielt Pikul seine Stellung nicht zurück, da sie "durchgestrichen wurde"; schließlich verlangte Pikul von Tichon Chrennikov Schadenersatz in Höhe von 33500 DM[10].
1991 hat der linke prosowjetische Verlag Le Chant du Monde, der als Mitglied der sogenannten "WAAP-Familie" Sonderprivilegien in der Sowjetunion genoss[11] sieben unvollendete Kompositionen von Roslawez angekündigt, die angeblich von Alexander Raskatow, vervollständigt worden waren, und zwar: den Vokalzyklus A. Blok in memoriam, die symphonische Dichtung In den Stunden des Neumonds, Die Musik für Streichquartett, die Sonate Nr. 1 (1925) und Nr. 2 (1926) für Viola und Klavier, die Klaviersonate Nr. 6 und die Kammersinfonie (1926); auf der Liste stand auch die Bearbeitung des Lieds Klopft! für Bariton und Schlagzeug.
In Wirklichkeit wurde der Vokalzyklus A. Blok in memoriam sowie die symphonische Dichtung In den Stunden des Neumonds von Roslawez vollendet. In den Archivmaterialien zur Sechsten Klaviersonate fehlt das Ende, was ihre authentische Rekonstruktion ausschließt. Die Musik für Streichquartett ist ein erfundener Titel: Roslawez komponierte niemals so ein Stück und beabsichtigte nie, das zu tun. Sonate Nr. 1 (1925) für Viola und Klavier auf der Liste von Le Chant du Monde ist in Wirklichkeit eine Skizze, auf deren Vollendung Roslawez verzichtete. Die echte Viola-Sonate Nr. 1 wurde 1926 komponiert: auf der Liste von Le Chant du Monde wird sie irreführend als Viola-Sonate Nr. 2 bezeichnet. Auch diese Komposition wurde von Roslawez persönlich zu Ende gebracht und brauchte keine Vervollständigung; das Stück wurde von M. Lobanova rekonstruiert und herausgegeben, die A. Raskatov auf Bitte E. Denisows in Fragen des Schaffens und Nachlasses von Roslawez beraten hatte. Die echte Sonate Nr. 2 für Viola und Klavier wurde nicht 1926 geschaffen, wie es in der Liste von Le Chant du Monde behauptet wird, sondern in den 1930er Jahren; das Werk brauchte ebenfalls keine „Vervollständigung“ und wurde von M. Lobanova herausgegeben. Die Kammersinfonie (1926) auf der Liste von Le Chant du Monde ist in Wirklichkeit eine Skizze, auf deren Vollendung Roslawez ebenfalls verzichtete. Die Skizze lässt keine authentische Rekonstruktion des Zyklus bzw. seiner Sätze zu; die Besetzung, die Raskatov verwendete, erscheint als willkürlich und zweifelhaft: die Notizen im Particello Roslawez’ enthalten keine Hinweise auf Harfe und Klavier, und sechs Schlaginstrumente sind Roslawez’ Idiom und Stil völlig fremd. Für 18 Instrumente war die echte Kammersinfonie von Roslawez (1934–1935) verfasst; die Skizze von 1926 lässt eine kleinere Besetzung erkennen.
Die Verheimlichung der Informationen über den Charakter und den tatsächlichen Zustand der Materialien, die der sogenannten „von Raskatov vervollständigten Werke Roslawez“ zugrunde lagen, führte zu Verwirrung, beeinflusste sehr negativ Studien über Roslawez und erschwerte enorm die Verbreitung seines Erbes. Mehrere Missverständnisse entstanden im Zusammenhang mit Viola-Sonaten von Roslawez und deren Aufnahmen: so sind, trotz der Behauptungen der Herausgeber, nicht die Violasonate Nr. 1 und 2 auf der CD Roslavets. Musique de chambre (Harmonia mundi, LDC 288 047) aufgenommen: es handelt sich um die obenerwähnte Skizze von 1925 und die echte Sonate Nr. 1, die von Roslawez vollendet wurde und, trotz der Behauptungen im Booklet, keine „Vervollständigung“ brauchte (auf der CD wird sie irreführend als Violasonate Nr. 2 bezeichnet).
Die Informationen über die Wiederherstellung der symphonischen Dichtung In den Stunden des Neumonds und anderer Werke von Roslawez haben sich in der Publizistik verbreitet. So behauptete Gerard McBurney im Artikel The Resurrection of Roslavets (Tempo, Juni 1990, S. 8–9), dass die symphonische Dichtung In den Stunden des Neumonds aufgrund der unvollständigen Skizze der Partitur von Raskatov vervollständigt worden sei; in Wirklichkeit beruhte M. Lobanovas Rekonstruktion jenes von Roslawez vollendeten Werks auf dem fast kompletten Stimmsatz, und die fehlenden Orchesterstimmen wurden aufgrund der Partitur-Skizze ergänzt. Die Informationen über Raskatovs Rekonstruktion der symphonischen Dichtung In den Stunden des Neumonds wurden auch im Artikel von Anna Ferenc Reclaiming Roslavets: The Troubled Life of a Russian Modernist (Tempo, 1992, Nr. 3, S. 7) erwähnt sowie im Booklet-Text von Calum McDonald zur CD 'CDA 67484' des englischen Plattenlabels Hyperion Records: die auf dieser CD aufgenommene Einspielung der symphonischen Dichtung In den Stunden des Neumonds vom BBC Scottish Symphony Orchestra unter der Leitung von Ilan Volkov wurde wiederum irrtümlich mit dem Namen Raskatov in Verbindung gebracht: in Wirklichkeit liegt auch jener Einspielung die Rekonstruktion von M. Lobanova zugrunde. Auch die Welturaufführung des Stücks in Saarbrücken wurde im Booklet-Text von Calum McDonald irrtümlich mit dem Namen Raskatov verbunden. Der Bescheid des Landesgerichts Hamburg vom 30. Januar 2009 (GZ: 1004/08JB01 GK: 175) untersagte den Verkauf der CD Hyperion (CDA 67484) mit dem Booklet, das die obengenannten falschen Informationen enthielt. Entsprechend den sich herausstellenden Tatsachen hat die Firma Hyperion Records, Ltd., die Angaben zum Poem In den Stunden des Neumonds auf ihrer Webseite geändert und die echte Autorin der Rekonstruktion, M. Lobanova, genannt. Neulich wurde auch der Booklet-Text von Calum McDonald zur CD Hyperion (CDA 67484) entsprechend der Wahrheit revidiert.
In den letzten Jahren verstärkte sich eine gefährliche Tendenz, Roslawez’ Schaffen zu chauvinistischen bzw. nationalistischen Zwecken zu entstellen und zu instrumentalisieren (detailliert darüber in:[12]). Diese Versuche bilden einen krassen Widerspruch zu den Überzeugungen des Komponisten, der sich kosmopolitisch äußerte.
Zur Zeit erscheinen die Hauptwerke von Roslawez (viele von ihnen erstmals veröffentlicht) im Verlag Schott Musik International bzw. Kompozitor International, Mainz (s. die Verlags-Webseite). Die Herausgabe beruht auf dem Konzept, Roslawez’ Schaffen authentisch zu präsentieren. Ein wesentlicher Teil der verlegten Kompositionen stammte aus den Archiven und brauchte editorische Arbeit. In anderen Fällen handelte es sich um die Materialien zu den vom Komponisten abgeschlossenen Werken, die authentische Rekonstruktion ermöglichten. Bei den Neuveröffentlichungen der zu Roslawez’ Lebzeiten publizierten Werke handelte es sich u. a. um das Korrigieren der Druckfehler. Das editorische Programm ist noch nicht abgeschlossen; mehrere Werke befinden sich in Vorbereitung.
Der Begriff In den Stunden des Neumonds bzw. das Poem von Roslawez wurden im letzten Jahrzehnt zum Kultbegriff: den Titel In den Stunden des Neumonds trug die musikalisch-visuelle Inszenierung von Eberhard Kloke, die 2000 in Deutschland im Rahmen der EXPO verwirklicht wurde; unter dem Programmuntertitel Neumond verliefen die Konzerte der Basel Sinfonietta unter der Leitung von Fabrice Bollon (Basel, Genf, Zürich, 21–23. März 2009), in denen das Poem von Roslawez erklang. Das skandalberühmte Portal The Pirate Bay bot Internet-Benutzern etliche Werke von Roslawez an, zum Beispiel das Poem In den Stunden des Neumonds unter der Leitung von Heinz Holliger.
Nikolai Roslawez gehört zu den originellsten Komponisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er entwarf mit seinem neuen System der Tonorganisation eine eigenartige Kompositionslehre. Diese beruht auf der Verwendung sogenannter „Synthetakkorde“, deren Vorformen schon seit 1907 in Roslawez Kompositionen zu beobachten sind. Seit jener Zeit arbeitet Roslawez systematisch an der Vervollkommnung seiner Kompositionsmethode. Sein Versuch einer Systematisierung der Chromatik legte Vergleiche mit westlichen Bestrebungen ähnlicher Natur nahe und noch in den 20er Jahren galt Roslawez als eine Art „russischer Schönberg“. Ähnlich wie Arnold Schönbergs Zwölftontechnik sollte durch das Neue System das überkommene tonale Prinzip ersetzt und in eine lehrbare Form gebracht werden. Grundlegende Prinzipien der klassischen und romantischen Harmonik gehen aber in das Neue feste System ebenfalls mit ein und werden – anders als bei Schönberg – nicht um jeden Preis vermieden. Das neue System entstand völlig unabhängig und formierte sich viel früher als die Muster der klassischen Dodekaphonie. Auch Alexander Skrjabin und dessen als „Klangzentrum“ figurierenden „Prometheus-Akkords“ oder „Mystischen Akkords“ ist das roslawezsche Verfahren eng verwandt. Obschon Roslawez sich energisch in den 1920er Jahren von Skrjabin distanzierte, erbte er die Grundsätze und Begriffe des harmonischen Systems Skrjabins, die vom gemeinsamen Freund der beiden Komponisten, Leonid Sabanejew, artikuliert und vermittelt wurden.[13] Die „Synthetakkord-Methode“ legt ferner ästhetische Vergleiche mit den in Russland auftretenden Kunstrichtungen des Futurismus und später des Konstruktivismus nahe.
Ein Synthetischer Akkord besteht normalerweise aus sechs oder mehr Tönen. Es sind speziell für das jeweilige Stück ausgewählte Tonkomplexe, aus denen alle melodischen und harmonischen Beziehungen der Komposition abgeleitet werden. Außerdem gibt es eine Tendenz alle Töne eines Synthetakkords innerhalb eines begrenzten Zeitraums erklingen zu lassen, wobei aber Reihenfolge und Lage vollständig beliebig sind. Diese Verfahren ähneln in wesentlichen Zügen der sogenannten nondodecaphonic serial composition bzw. dem pitch class set (George Perle). In der Komposition unterliegen „Positionen“ und „Transpositionen“ der Syntheakkorde einem Plan, der von konkreten Strukturen individueller Systhetakkorde bestimmt wird (s.: Lobanova 1983, 1997, 2001). Diese Kompositionstechnik wird konsequent in den Kompositionen aus den 1910er und 1920er Jahre verwendet.
Exklusive Rechte bei Schott Musik International bzw. Kompositor International, Mainz; einzelne Ausgaben vor 1917 erschienen bei W. Grosse, später bei Muzsektor Gosizdata, Muzyka und Sovetskij kompozitor/Kompozitor in Moskau, UE in Wien und Sikorski in Hamburg. Angaben zu den Manuskripten, Archivbeständen und Ausgaben neben den Schott-Editionen in: M. Lobanova 1997, S. 257–264
Bühnenwerk
Vokalmusik
Instrumentalmusik
für Violine und Klavier:
für Viola und Klavier:
für Violoncello und Klavier:
Klaviermusik (wenn nicht anders angegeben, erschienen die Werke oder stehen im Katalog des Verlags Schott Musik International):
Agitations- und Gebrauchsmusik (s. Verz. in: M. Lobanova 1997) Film- und Theatermusiken Arrangements, Potpourris
Personendaten | |
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NAME | Roslawez, Nikolai Andrejewitsch |
ALTERNATIVNAMEN | Рославец, Николай Андреевич (russisch); Roslavec, Nikolaj Andreevich (wissenschaftliche Transliteration) |
KURZBESCHREIBUNG | russischer Komponist, Violinist und Musiktheoretiker |
GEBURTSDATUM | 4. Januar 1881 |
GEBURTSORT | Surasch, Gouvernement Tschernigow, Russisches Reich, heute Oblast Brjansk |
STERBEDATUM | 23. August 1944 |
STERBEORT | Moskau |