Jean-Baptiste Lully, geboren als Giovanni Battista Lulli (* 28. November 1632 in Florenz; † 22. März 1687 in Paris) war ein italienisch-französischer Komponist, Geiger, Gitarrist und Tänzer, der ab seinem 14. Lebensjahr, zunächst als „garçon de chambre“ für Anne Marie Louise d’Orléans am französischen Hof arbeitete und zu den höchsten musikalischen Ämtern Ludwigs XIV. aufstieg. Im Dezember 1661 wurde er französischer Bürger.[1] Als Schöpfer charakteristisch französischer Barockmusik gilt er als einer der einflussreichsten Komponisten der französischen Musikgeschichte.[2]
Jean-Baptiste Lullys Vorfahren väterlicherseits waren Bauern in der Toscana. Seine Eltern, Lorenzo Lulli und dessen florentinische Ehefrau Caterina, geborene del Sera (oder Seta) – eine Müllerstochter –, bewohnten zur Zeit von Lullys Geburt eine Stadtwohnung in Florenz. Im Juni 1638 starb Jean-Baptistes älterer Bruder Vergini, im Oktober 1639 seine Schwester Margherita. Damit verblieb der siebenjährige Jean-Baptiste das einzige Kind seiner Eltern. Lorenzo Lulli übernahm nach dem Tod seines Schwiegervaters die Geschäfte der Mühle und erarbeitete sich einen gewissen Wohlstand. Damit konnte er Giovanni Battista eine gute Ausbildung ermöglichen, der vermutlich die Schule der Franziskanerkirche Santa Croce (Florenz) besuchte.[3] Eine Druckschrift von 1705 berichtet, Lully habe später dankbar von einem „cordelier“ (Franziskaner) gesprochen, der ihm den ersten Musikunterricht gegeben und Gitarrespiel beigebracht habe.
Im Februar 1646, zur Karnevalszeit, besuchte der Pariser Roger de la Lorraine, Chevalier de Guise, Florenz, wo er seine Kindheit am Hof des Großherzogs der Toskana verbracht hatte. Im Auftrag Anne Marie Louise d’Orléans, duchesse de Montpensier (genannt La Grande Mademoiselle), suchte er für ihren italienischen Sprachunterricht einen Italiener zu ihrer Konversation. Der Chevalier wurde bei karnevalistischen Vorführungen auf den komödiantisch begabten und Geige spielenden Dreizehnjährigen Lully aufmerksam und nahm ihn mit Einverständnis der Eltern nach Frankreich mit. Kardinal Giovanni Carlo, Bruder des Großherzogs der Toskana, begleitete beide zum Schiff nach Frankreich.[4]
Von seinem 13. Lebensjahr an lebte Lully bei der „Grande Mademoiselle“ Anne Marie Louise d’Orléans, duchesse de Montpensier, der Nichte des Königs Ludwig XIII. und Cousine Ludwig XIV. im Pariser Palais des Tuileries. Die 23-jährige Herzogin lebte „emanzipiert“ (Ehepartner hatte sie abgelehnt) und hatte als Frau den zweithöchsten Rang Frankreichs nach der Königin inne. Bei ihr diente Lully als „Garçon de chambre“ (Kammerdiener), indem er z. B. die Garderobe sortierte, die Kamine heizte und die Kerzen anzündete. Hauptsächlich profitierte er musikalisch, da die Herzogin berühmte Musik- und Tanzlehrer für sich beschäftigte: den Komponisten und Sänger am Hofe ihres Vaters Étienne Moulinié sowie den Tanzlehrer und Violinisten Jacques Cordier (genannt „Bocan“), der auch der „Musique du Roi“ angehörte. Lully begleitete die singende und tanzende Herzogin mit der Gitarre und unterhielt sie als Komiker.[5] In dieser Situation liegt nahe, dass der Junge von Bocan lernen konnte und sich dabei dessen kritische Haltung gegenüber den Vingt-quatre Violons du Roy (später) auf ihn übertrug.[6] Laut einer Quelle von 1695 nahm Lully Cembalo- und Kompositionsunterricht bei Nicolas Métru, François Roberday und Nicolas Gigault. Auf der Gehaltsliste der Anne Marie Louise d’Orleans befand sich auch der königliche Tanzmeister, der vermutlich für Lullys ausgezeichnete Tanzausbildung sorgte. Jean Regnault de Segrais, Sekretär der Mademoiselle, der 1661 in die Académie française aufgenommen wurde, beeinflusste Lully. Im Jahr 1652 erscheint Lullys Name erstmals französisiert in den Etats de la maison princière als „Jean-Baptiste Lully, garçon de la chambre“.[7]
Während der vormundschaftlichen Herrschaft der Königin Anna von Österreich für ihren unmündigen Sohn Ludwig XIV. beteiligte sich die Grande Mademoiselle, Lullys Dienstherrin, aktiv an der Fronde (Bürgerkrieg) gegen die Regentschaft der Königinmutter und des Kardinals Mazarin. Aufgrund ihrer Aktivitäten wurde sie nach Saint-Fargeau verbannt, wohin ihr der mittlerweile zwanzigjährige Lully folgte, der noch am 7. März 1652 in einem „récit grotesque“ in den Tuilerien als Komponist und Darsteller aufgetreten war.[8] Wieder zurück in Paris war er im Ballet royal de la nuit mehrere Male zwischen dem 23. Februar und 16. März 1653 als Schäfer, Soldat, Bettler, Krüppel und Grazie zu sehen. Der vierzehnjährige Ludwig XIV. selbst tanzte hier zum ersten Male die Rolle der aufgehenden Sonne. Als Lullys Vermittler zum Königs-Hof kommt Jean Regnault de Segrais – Mitorganisator des Ballet royal de la nuit – in Frage.[9] Lully war offenbar ein begabter Tänzer, ein „balladin“ (Balletttänzer), fühlte sich wohl auf der Bühne, war Theatermann. Seinem Tanz haftete etwas Ungewöhnliches an, sodass Zeitungsleute, die sich sonst kaum mit Tänzern befassten, ihn als „Baptiste“ zum Gegenstand ihrer Berichte auswählten.[10]
Am 16. März 1653 wurde Lully zum Compositeur de la musique instrumentale ernannt. Für die „Ballets de cour“, die am französischen Hof eine besondere Rolle spielten, komponierte er die Tänze, während Texte und Komposition der gesungenen „Airs de Ballet“ in den Händen anderer Hofkünstler, wie z. B. Michel Lambert lagen. Nicht selten tanzte Lully selbst an der Seite des Königs, zum Beispiel im Ballet des plaisirs. Seine italienische Herkunft war in seinen Kompositionen lange zu hören z. B. im Ballet de Psyché, für das er ein Concert italien komponierte. Seine erste größere Komposition war die Maskerade La Galanterie du temps, die im Palais des Kardinals Jules Mazarin unter Mitwirkung der Petits violons auf die Bühne kam. Mit den seit 1648 bestehenden Petits violons (Streichergruppe) fand Lully ein eigenes Ensemble, das flexibler einsetzbar war als die etablierte Grande bande, die bereits von Ludwig XIII. gegründeten sogenannten 24 Violinen des Königs, die als das erste feststehende Orchester der Musikgeschichte gelten. Zwischen deren Leiter Guillaume Dumanoir sowie dem bis dahin für die Tanzmusik am französischen Hof zuständigen Jean de Cambefort und ihm, dem jüngeren Lully entstand eine ernste Rivalität.[11] Andere Hofmusiker dagegen förderten Lully, wie Regnault oder der Meister des Air de Cour Michel Lambert, der ihm bei der Vertonung der französischen Sprache half.[12] Letzterer wurde 1661 Kammermusikmeister Ludwigs XIV und Lullys Schwiegervater.
Lully gehörte zur Gruppe italienischen Musiker in Paris, die vom einflussreichen Kardinal Mazarin – wie Lully gebürtiger Italiener – gefördert wurde. Zu diesen gehörte beispielsweise die italienische Sängerin Anna Bergerotti, die den jungen Lully förderte.[14] Lully schrieb italienisch klingende Stücke wie „chaconnes“, „ritournelles“ und italienische Vokalmusik, doch ungeachtet seiner musikalischen Herkunft stieg er in dieser Zeit zum Hauptvertreter des französischen Hoftanzes bzw. des Ballet de cour auf.[10] Mit Amour malade, uraufgeführt am 17. Januar 1657, gelang Lully der Durchbruch als Komponist. Der Einfluss der italienischen Oper war auch hier erheblich, indem er in Amor malade das traditionelle französische (Einführungs-) Rézit durch die Neuerung eines prologue ersetzte.[15] Lully brillierte in diesem Ballett als Darsteller in der Rolle des Scaramouche, dem ein Esel eine Dissertation widmet. Der sehr italienische Einschlag dieser Komposition war für Henri duc de Guise der Grund, mit viel Geld die mascarade Plaisirs troublés mit einer nach französischer Tradition von Louis de Mollier komponierten Musik im Februar 1657 aufführen zu lassen.[13]
Lully gehörte nun dem inneren Kreis um den König an. Als dieser 1659 mit Mazarin zur Vorbereitung des Pyrenäen-Friedensvertrages in die Pyrenäen reiste, begleitete ihn Lully und komponierte unter anderem das Ballet de Toulouse. Am 29. August 1660, drei Tage nach dem Einzug Ludwigs in Paris, erklang in der Église de la Merci in Anwesenheit der Königinmutter Anna von Österreich, des Königs, der Königin Marie-Thérèse (die Feierlichkeiten ihrer Verheiratung mit dem König waren noch nicht beendet) und Philippe I. de Bourbons, des Königs Bruder, mit großem Erfolg Lullys Friedensmotette Jubilate Deo, ein motet de la Paix. Weitere kirchliche Werke folgten in den Jahren danach, alle zusammen brachten Lully besondere Ehre ein.[16]
Eine besondere Herausforderung für Lully gab es, als der Kardinal auch den berühmten italienischen Opernkomponisten Francesco Cavalli nach Paris kommen ließ. Auch vorher schon hatte Paris Aufführungen italienischer Opern erlebt: Luigi Rossis Werke wurden oft gespielt, besonders erfolgreich war dessen Oper Orfeo. Cavalli sollte nun unter dem Titel Ercole amante (Der verliebte Herkules) eine Festoper zur Hochzeit Ludwig XIV. mit Marie-Thérèse schreiben, Lully komponierte die Ballette. Wegen organisatorischer Missstände musste Cavalli auf ein älteres Werk zurückgreifen: Serse. Auch hierfür komponierte Lully die Balletteinlagen. Diese Oper wurde endlich am 21. November 1660 in der Gemäldegalerie des Palais du Louvre aufgeführt.[17]
Nach dem Tode Mazarins am 9. März 1661 verließen viele Italiener Frankreich. Auch Cavalli kehrte nach Venedig zurück.
Am 5. Mai 1661 ernannte Ludwig XIV. Lully zum Surintendant de la musique du roi, wobei er auf die 10.000 Livres, die das Amt gekostet hätte, verzichtete. Michel Lambert wurde Maître de musique de la chambre. Von jetzt an komponierte Lully die Ballette alleine, sowohl die Tänze, als auch die gesungenen Passagen, die sogenannten récits.[18]
Im Februar 1662, zwei Monate nachdem er den König erfolgreich um seine Einbürgerung gebeten hatte, nahm er Magdelaine Lambert zur Frau – nicht ohne Druck der Obrigkeit, denn es galt, Lullys Homosexualität zu kaschieren. Er behielt zeitlebens einen florentinischen Akzent und sorgte für eine Großfamilie nach italienischer Art: Seine sechs Kinder, Verwandte und deren Freunde wohnten bei ihm. Nach drei Umzügen wurde das Hôtel Lully in der Pariser Rue Sainte-Anne der endgültige Wohnsitz.[19] In der Musik jedoch verschwand sein bisheriger Stil eines italienischen „bouffon“, eines Spaßmachers. Er komponierte mit dem Ballet des Arts 1663 sein erstes vollständig rein französisches „Grand Ballet de cour“. Die Liedtexte schrieb Isaac de Benserade. In gleichem Maß für den Erfolg bedeutsam waren dessen Verse im „livret“, die kommentierten, was auf der Bühne getanzt wurde.[20]
Der Finanzminister Nicolas Fouquet hatte sich in Vaux-le-Vicomte einen Palast erbauen lassen und dafür die besten Künstler Frankreichs verpflichtet: Louis Le Vau als Architekt, André Le Nôtre für die Gartenanlagen und Charles Lebrun, den ersten Hofmaler und hervorragenden Dekorateur für die Gestaltung der Prunkräume. Am 17. August 1661 fand ein großes Fest statt, zu dem der König, seine Familie und zahlreiche Gäste geladen waren. An achtzig Tischen wurden sie bewirtet und auf dreißig Büffets fanden sich 6000 massiv silberne Teller.[21] Für die Musik sorgten die fähigsten Instrumentalisten, darunter der Lautenist Michel Lambert und Lully. Lully, mit Molière befreundet, dessen Komödie Les Fâcheux (Die Lästigen) aufgeführt werden sollte, hatte diesen wenige Tage zuvor noch in panischer Stimmung gefunden, da ihm für diese Aufführung nicht genügend Schauspieler zur Verfügung standen. Abhilfe schuf eine einfache und geniale Idee: Zwischen die Szenen wurden Ballettnummern eingefügt, um den Schauspielern Zeit zum Umkleiden zu geben. Pierre Beauchamp und Lully arrangierten die Ballettnummern, für die Lully nur einen Tanz, eine Courante, neu komponieren musste.
Die Aufführung wurde ein großer Erfolg und damit war die erste Comédie-ballet („Ballett-Komödie“) von insgesamt zwölf erschaffen.[22] Das teure Schloss und das verschwenderische Fest hatten jedoch den König verärgert. Bald darauf ließ er Fouquet verhaften, seine Besitztümer beschlagnahmen – und begann selbst, das alte Jagdschloss seines Vaters zu seiner prunkvollsten Residenz zu erweitern: Schloss Versailles.
Als 1664 die ersten Arbeiten im Park abgeschlossen waren, wurde wieder ein gewaltiges Fest ausgerichtet Les Plaisirs de l’îsle enchantée, es dauerte vom 7. bis 13. Mai. Sein Höhepunkt war thematisch auf die Geschichte aus Ariosts Orlando furioso mit der Zauberin Alcina ausgerichtet. Eröffnet wurde mit einem „Carrousel“, einem Pferdeballett, in dem sich der Hof in kostbaren Kostümen präsentierte. Der König selbst führte, kostümiert als „Ritter Roger“, den Zug an. Molières La Princesse d’Elide mit Lullys Musik wurde gegeben und den Abschluss des siebentägigen Festes bildete das Ballet des Saisons (Ballett der Jahreszeiten), in dem unter anderem der Frühling auf einem Pferd, der Sommer auf einem Elefanten, der Herbst auf einem Kamel und der Winter auf einem Bären einzogen. Lullys Musik dazu ist verschollen. Es gab Lotterien, Bankette, Bälle und Aufführungen weiterer getanzter Stücke von Molière-Lully: Les Fâcheux (11. Mai), Le Mariage forcé (Die Zwangsheirat, 13. Mai) und am 12. die Premiere des Tartuffe, der ein Verbot des Stückes folgte. Das Fest gipfelte in der Erstürmung des „Palastes der Alcina“ auf einer künstlichen Insel im großen Kanal von Versailles, die in einem aufwändigen Feuerwerk unterging. Die Beschreibung des gesamten Festes stammt von André Félibien, dokumentiert durch Stiche vom „Graveur ordinaire du Roi“ Israël Silvestre.[23]
In den folgenden Jahren entstanden weitere Ballettkomödien: George Dandin wurde 1668 im Rahmen des (zweiten) großen Festes von Versailles gegeben, Monsieur de Pourceaugnac im Jahr darauf (auch Le Divertissement de Chambord, Chambord 1669). Lully sang dabei – er hatte die Stimmlage eines Bariton – unter dem Pseudonym „Chiacchiarone“, was seiner Position als „Surintendant“ geschuldet war.[24] Doch den größten Erfolg hatten 1670 die beiden Ballett-Komödien Les amants magnifiques (Die Fürsten als Brautwerber) und Le Bourgeois gentilhomme (Der Bürger als Edelmann). Letztere war auf den türkischen Botschafter gemünzt, der sich bei Hof lächerlich gemacht hatte.
Neben der Zusammenarbeit mit Molière komponierte Lully weiterhin die Ballets de Cour. Als letztes entstand 1669 das Ballet Royal de Flore, in dem Ludwig XIV. zum dritten Mal als die Sonne auftrat, in der Ballettkomödie Les amants magnifiques, dann zum vierten und letzten Mal – so das vorab gedruckte und verteilte Livret. Tatsächlich hatte er zugunsten des Comte d’Armagnac und des Marquis des Villeroy verzichtet, da er sich nach Fieberanfällen benommen und unwohl fühlte. Er gab im Alter von 30 Jahren den Bühnentanz auf. Lully hatte dasselbe 1668 mit 35 Jahren getan.[25]
1671 schufen Lully und Molière die Tragédie-ballet (Ballett-Tragödie) Psiché (Psyche), um dem „größten König der Welt“ Heroisches vorzuführen. Aus Zeitnot musste Molière zwei weitere Librettisten beschäftigen, nämlich Pierre Corneille und für die Divertissements Philippe Quinault, der von da an Lullys Librettist erster Wahl wurde. Neun verschiedene Bühnenbilder wurden gebraucht, alle Götter des Olymp und eine Vielzahl von Monstern und Fabelwesen waren zu sehen. Das Werk war trotz seiner Länge sehr erfolgreich. Aufgeführt im Tuilerientheater war Psiché bis dahin mit Kosten in Höhe von 334.645 Livres die mit Abstand teuerste Produktion des Hofs,[26] diesen Betrag erreichten Lullys Opern in den folgenden Jahren jeweils nur etwa zur Hälfte.
Als der Herzog von Orléans, der Bruder des Königs, sich nach dem Tod seiner ersten Gattin 1671 mit Liselotte von der Pfalz vermählte, wurde das Ballet des Ballets bestellt. Lully und Molière schufen ein Pasticcio, eine „Pastete“ aus erfolgreichen Szenen der letzten gemeinsamen Werke, gerieten aber während der Arbeiten in Streit und trennten sich im Zorn. Zwar wurde das Ballett aufgeführt, aber Molières Komödie La Comtesse d’Escarbagnas (Die Gräfin von Escarbagnas, Dezember 1671) vertonte bereits ein anderer: Marc-Antoine Charpentier, der auch für Molières letztes Werk Le malade imaginaire (Der eingebildete Kranke) die umfangreiche Bühnenmusik schrieb.
Nach mehreren verschiedenen Bühnenformen brachte 1671 Robert Cambert, der damalige „Chef de la musique“ der Königinmutter Anna von Österreich zusammen mit dem Librettisten Pierre Perrin die erste „wirklich französische Oper“ auf die Bühne: Pomone. Der Erfolg war wider Erwarten bombastisch: „sie lief acht Monate vor ausverkauften Häusern“.[27] Lully beobachtete den Erfolg der beiden mit Neugier und Neid. Perrin hatte 1669 offiziell das Patent für Opernaufführungen unter der Bezeichnung „Académies d’Opéra“ erhalten, wovon „Pomone“ die Eröffnungsoper war.[28][29] Lully gelang es, die Übertragung der Rechte der Akademie für sich zu erhalten. Cambert verließ verbittert Paris und ging nach London.
Lully hatte nun das Monopol zur Aufführung von Opern, doch er erwirkte noch weitere Rechte beim König. So war jegliche Aufführung mit Musik ohne seine – des Surintendanten – Genehmigung untersagt und wurde mit Konfiszierung sämtlicher Instrumente, Kostüme, Einnahmen etc. geahndet. Dies traf Molière in seinem letzten Lebensjahr besonders schwer, da alle Texte, zu denen Lully Musik komponiert hatte, nun dessen Eigentum waren. Unter der Benennung Académie royale de musique war die Institution fest in den Händen Lullys. Seine Macht ließ er nun jeden spüren, weswegen angeblich viele angesehenen Komponisten und Musiker den Hof verließen. Als ein Beispiel dafür gilt der Begründer der französischen Cembaloschule Jacques Champion de Chambonnières,[Anm. 1] der allerdings schon 1662 das Amt des Hofcembalisten an den mit Lully befreundeten Jean-Henry d’Anglebert verkauft hatte.[Anm. 2]
1672, im Jahr der Erteilung des Privilegs, brachte Lully schließlich seine erste Oper auf die Bühne, die Pastorale Les Fêtes de l’Amour et de Bacchus. Hier folgte er aus Zeitnot dem Modell des Ballet des Ballets, es wurde also ein Pasticcio. Alle folgenden Tragédies Lullys bestehen aus einem Prolog und fünf Akten. Jeder Akt verfügt zusätzlich über ein Divertissement (eine großzügige Szene mit Ballett) und Choreinlagen. (Die italienische Oper damals hatte drei Akte.)
Im Jahr 1673 begann mit Cadmus et Hermione, Lullys erster Tragédie lyrique, die Serie der von da ab jährlichen spezifisch französischen Opern. 1674 folgte Alceste, uraufgeführt im Marmorhof von Versailles als Festhöhepunkt und 1675 Thésée. In diesem Jahr nahm die affaire Guichard ihren Anfang, in der Lully nicht gut aussah, obwohl Henry Guichard am Ende das Feld räumen musste. Jener hatte nämlich ein Privileg ähnlich dem Lullys erwirkt, nämlich für Aufführungen von Schauspielen, das der Académie royale des spectacles. Nur die Musik fehlte ihm zur Vervollkommnung, doch Lully ließ sich nichts nehmen. Eine Sängerin berichtete ihm von angeblichen Plänen Guichards, ihn mit in den Schnupftabak gemischtem Arsen zu vergiften, und Lully strengte deswegen einen Prozess an, den er letztlich nie gewann. Umgekehrt zog Guichard ihn von 1676 an mit Enthüllungen über sein Privatleben ausgiebig durch den Schmutz. In Verlegenheit geriet hierdurch auch Carlo Vigarani, der Bühnenbildner und Theaterarchitekt, Teilhaber an Lullys Oper, der nebenbei drei Jahre lang für Guichard arbeitete.[30]
1676 wurde Atys gegeben. Da der König hier angeblich an der Komposition beteiligt war und sehr lange mit Lully zusammensaß, um das Werk zu vollenden, bekam die Tragödie den Untertitel Die Oper des Königs. Hier verzichtet Lully auf Pauken und Trompeten, um einen dunklen rauen Klang zu erzielen. In einer Schlummerszene trat der noch junge Marin Marais als einer der Träume auf.
1677 folgte Isis. Der eigenwilligen Oper war wenig Erfolg beschieden. Man kritisierte die seltsame Handlung, die Philippe Quinault vorgelegt hatte, und empfand Lullys Musik als zu intellektuell. Die Oper bekam den Untertitel Die Oper der Musiker, denn Musiker und musikalisch gebildete Zuschauer waren vom Werk begeistert.
1678 arbeitete Lully die Tragédie-ballet Psiché mit Hilfe der Librettisten Thomas Corneille und Bernard le Bovier de Fontenelle zu einer Oper Psyché um; die gesprochenen Dialoge wurden durch Gesang ersetzt.
1679 kam Bellérophon auf die Bühne, wieder in Kooperation mit Thomas Corneille. Eine bemerkenswerte Neuerung war dabei die Begleitung des Rezitativs durch das Streicherensemble.[31] 1680 folgte Proserpine, 1681 auf Befehl des Königs ein Hofballett, Le Triomphe de l’Amour. Ludwig XIV. wünschte sich eine Wiederbelebung der alten Hofballette. Das Stück wurde von den Nachkommen des Königs getanzt, es wurde zu einem der berühmtesten Werke Lullys überhaupt. Vor Proserpine trennten sich bereits die Wege von Lully und Carlo Vigarani, dessen Nachfolger Jean Bérain als Bühnenbildner an der Opernakademie statt Teilhaber nur bediensteter Künstler wurde. Er entwarf zwar bewundernswerte Bühnenkostüme, scheiterte aber an der Bedienung der Theatermaschinen, weshalb er nach Proserpine durch den Italiener Ercole Rivani ersetzt wurde. Doch der verlangte hierfür von Lully 5000 Livres jährlich, was 1682 die Arbeit wieder an Bérain fallen ließ.[32]
1682 zog der Hof endgültig nach Versailles. Zu diesem Anlass wurde Persée gegeben. Mit diesem Werk wurde noch neunzig Jahre später, am 17. Mai 1770, das Opernhaus zu Versailles eingeweiht, zur Hochzeit des zukünftigen Ludwig XVI. mit Marie-Antoinette. Dies spricht für die Bedeutung, welche man den Werken Lullys noch im 18. Jahrhundert zubilligte.
1683 starb Marie-Thérèse, die Königin von Frankreich, daher wurden die Aufführungen von Phaëton auf 1684 verschoben, ebenso jene von Lullys erfolgreichstem Werk Amadis. Amadis wurde dann jedes Jahr aufgeführt, solange der König lebte. Des Weiteren wandten sich Lully und Quinault von der Mythologie ab und besangen französische Ritterepen, welche die Verteidigung des Glaubens als höchstes Ideal zum Inhalt haben. Die Aufhebung des Ediktes von Nantes sollte auch in der Musik seine Spuren hinterlassen.[33]
1685 wurde die Oper Roland gegeben. Um diese Zeit kam es zum Eklat, als öffentlich wurde, dass Lully eine Affaire mit einem Pagen namens Brunet hatte; hinzu kam seine Beteiligung an den Orgien der Herzöge von Orléans und Vendôme.[Anm. 3] Der König unterbreitete Lully, der inzwischen zum Secrétaire du Roi ernannt, Berater des Königs und geadelt worden war, dass er nicht weiter gewillt sei, sein Verhalten zu dulden.[Anm. 4]
Lully schrieb dem König und bat ihn um Vergebung. Beinahe wäre er erfolgreich gewesen: Der Marquis de Seignelay, Sohn Jean-Baptiste Colberts, hatte ein Werk bei ihm in Auftrag gegeben, Idylle sur la Paix. Den Text dazu schrieb Jean Racine. Der König, der in Sceaux der Aufführung beiwohnte, war äußerst angetan vom neuesten Werk seines Oberhofmeisters, er ließ Lully große Abschnitte wiederholen.[Anm. 5]
1686 wurde Armide uraufgeführt, aber nicht am Hof, sondern in Paris, der König empfing ihn nicht mehr. Lully hoffte jedoch, die Protektion des Königs wiederzuerlangen. Seine nächste Oper, die er für Louis-Joseph Duc de Vendôme auf ein Libretto von Jean Galbert de Campistron komponierte, war eine subtile Huldigung an den Thronfolger und damit an den König. Acis et Galatée erklang am 6. September 1686 im Schloss Anet anlässlich einer Jagdpartie des Dauphins. Im Vorwort der dem König gewidmeten Partitur schrieb Lully, er verspüre in sich eine „Gewissheit“, die ihn „über sich selbst hinaushebe“ und „mit einem göttlichen Funken erfülle“. Ende 1686, wohl nach der Wiederaufnahme von Acis et Galatée in Paris, ließ der Regent ihm mitteilen, er beabsichtige im Palais Royal Wohnraum für den Herzog von Chartres zu schaffen und Lully habe das Theater zu verlassen. Jener wollte daraufhin in der rue Saint-André-des-arts eine Oper aufbauen und kaufte dort ein bebautes Grundstück.[34]
1687 arbeitete Lully an seiner Oper Achille et Polixene. In dieser Zeit bekam der König erhebliche gesundheitliche Probleme. Der Arzt Charles-François Félix de Tassy hatte am 18. November eine gefährliche Fistel am Gesäß des Monarchen zu entfernen. Richelieu war bei einem solchen Eingriff gestorben. De Tassy übte im Hospital von Versailles an herbeigeschafften Leidensgenossen des Königs und entfernte das Geschwür mit Erfolg.[35] Man rechnete schon mit dem Tod des Königs, doch dieser erholte sich. Für die Feierlichkeiten zur Genesung bearbeitete Lully sein 1678 komponiertes Te Deum und ließ es auf eigene Kosten mit 150 Musikern aufführen. Jean-Laurent Le Cerf de La Viéville schrieb 1705, Lully habe sich, während der Aufführung der Motette am 8. Januar 1687 in der Église des Pères Feuillants, beim Auf- und Abbewegen seines fast schulterhohen Taktstocks mit dessen Spitze den Vorderfuß verletzt. Die kleine Wunde entzündete sich rasch und infizierte sich mit Wundbrand. Lully weigerte sich, den Zeh amputieren zu lassen, und starb wenige Monate darauf. Er wurde in Notre-Dame-des-Victoires unter großer Anteilnahme begraben. In zeitgenössischer Literatur oder auf Abbildungen finden sich allerdings keine Belege für das Taktgeben mit langen, heutigen Tambourstäben ähnlichen Dirigierstöcken – benutzt wurde meist ein aufgerolltes Blatt Papier in einer oder beiden Händen. Möglicherweise wollte Lully mit einem Spazierstock die anwesenden Musiker zur Aufmerksamkeit rufen.[36]
Seine letzte Oper wurde von seinem Sekretär Pascal Collasse vollendet. Die Nachfolge im Amt des Surintendanten übernahmen zuerst seine Söhne Jean und Louis de Lully zusammen mit seinem Schüler Marin Marais, bis der König das Amt Michel-Richard Delalande übertrug.
Seit 1961 tragen die Lully Foothills auf der Alexander-I.-Insel in der Antarktis und seit 1992 auch der Asteroid (8676) Lully seinen Namen.
Lully prägte mit seiner neuen Orchesterdisziplin nicht nur maßgeblich den französischen Stil, sondern übte damit großen Einfluss auf die Musikpraxis des ausgehenden 17. Jahrhunderts aus.
Typisch für den Klang seines Orchesters sind der fünfstimmige Streichersatz,[Anm. 6] die Mischung von Streichern und Bläsern, und die für seine Zeit große Besetzung des Orchesters. Die 24 Violinen des Königs bildeten den Kern des Ensembles; hinzu treten die 12 Oboen (an der Weiterentwicklung der Schalmei zur Oboe soll Lully maßgeblich beteiligt gewesen sein), außerdem Block- und Traversflöten, eine umfangreiche Continuogruppe mit Lauten, Gitarren, Cembalo etc. und in bestimmten Szenen Pauken und Trompeten. Beliebt war auch die ins Werk eingebundene „Zurschaustellung“ neuer Instrumente wie der Traversflöte, oder das „französische Trio“ aus zwei Oboen und Fagott. Diese Instrumente hatten in vielen Tänzen und Instrumentalstücken Soloauftritte, meist sogar auf der Bühne. In der nachfolgenden deutschen Tradition wurde das französische Trio oft verwendet, z. B. von Telemann und Fasch. In den frühen Jahren spielte Lully selbst die erste Violine in seinem Ensemble, oftmals sind in den Partituren der Philidor-Sammlung Vermerke wie „M. de Lully joue“ („Herr von Lully spielt“) zu lesen, die Violinstimme sollte dann mit improvisierten Verzierungen dargeboten werden.[37]
Die französische Ouvertüre mit einem ersten Teil im gravitätischen punktierten Rhythmus mit anschließendem schnellen, imitatorisch gearbeiteten Teil und am Ende (manchmal) einer Wiederaufnahme des ersten Tempos ist nur zum Teil eine Neuschöpfung Lullys. Seine Vorgänger, Lehrer und Zeitgenossen wie Jean de Cambefort, François Caroubel, Nicolas Dugap, Jacques de Montmorency de Bellville, Jacques Cordier, Pierre Beauchamps, Guillaume Dumanoir, Michel Mazuel, Mignot de la Voye oder Robert Cambert schrieben bereits Ouvertüren, oder besser gesagt Eröffnungsmusiken für die Hofballette. Diese Ouvertüren haben nichts mit den italienischen Opern Sinfonias zu tun, wie sie von Monteverdi, Luigi Rossi oder Francesco Cavalli und Antonio Cesti komponiert wurden. Der französische Orchesterstil wurde schon zu Zeiten Ludwigs XIII. und seiner Ballettmeister entwickelt und ist auf die Gründung der Gruppe der 24 Violinen zurückzuführen – Lullys Wirken besteht vornehmlich in der Weiterführung der Tradition seiner Vorgänger. Doch während die alten Ouvertüren eher nur gravitätisch waren, fügte Lully ihnen noch einen fugierten Teil hinzu. 1660 wurde eine solche „neue“ Ouvertüre im Ballett Xerxes zum ersten Male aufgeführt. Seitdem wurde diese Form beibehalten.[38] Fast jedes seiner Werke beginnt mit einer solchen Ouvertüre, eine Ausnahme bilden Les Fêtes de l’Amour et de Bacchus, die noch mit einem altertümlich anmutenden Ritournell eröffnet werden.
Das größte Verdienst Lullys liegt in der Begründung der französischen Nationaloper. Ludwig XIV. forderte, wie in allen Bereichen der Kunst, eine eigene französische Ausdrucksform auch in der Musik. In Lully und seinem Librettisten Philippe Quinault fand er Meister, die seine Vorstellungen umsetzten. Mit der von ihnen geschaffenen Opernform der Tragédie lyrique gelang es Lully und Quinault, eine eigene Form der Oper zu schaffen, die formal auf den großen klassischen Tragödien bedeutender Schriftsteller wie Corneille oder Racine basierten. Auf dieser Grundlage entwickelte Lully seine Opern als Gesamtkunstwerk, unter Einbeziehung großer Chorszenen und des für Frankreich traditionell wichtigen Tanzes in Form von Balletteinlagen. Damit konnte er die Erwartungen des Königs und des französischen Publikums zufriedenzustellen.[39]
Jede seiner Opern ist in fünf Akte und einen Prolog unterteilt. Es wurden nur klassische Stoffe behandelt wie Ritterepen oder Geschichten der griechisch-römischen Mythologie. Der Prolog, inhaltlich nur lose mit der nachfolgenden Tragödie verbunden, diente der Verherrlichung des Königs und seiner „Ruhmestaten“.[Anm. 7] Er beginnt und endet mit der Ouvertüre und besteht in der Regel weniger aus Rezitativen, sondern vor allem aus einem Divertissement mit Airs, Chören und Ballett. Die fünf Akte der Tragödien sind in Versen abgefasst, die in der Form des französischen Rezitativs deklamiert werden. Jeder der fünf Akte verfügt über ein weiteres Divertissement mit Arien, Chorszenen und Ballett, meistens – aber nicht immer – am Ende. Bestimmte Szenen wurden zum Standard, wie die poetischen Traumszenen („Sommeil“, z. B. in Atys), pompöse Schlachten („Combats“), die Stürme („Vents“) und die abschließenden großen Chaconnen und Passacaillen, oft mit Solisten und Chor.[40]
Die französische Oper war von Anfang an als Gegenpol zur etablierten italienischen Oper gedacht. Der Unterschied beginnt bei den verwendeten Stimmen und Stimmlagen. Die italienische Barockoper war nicht denkbar ohne die perfekt ausgebildete Virtuosität der männlichen Kastratenstimmen. Das führte zusammen mit den weiblichen Primadonnen zu einer deutlichen Betonung hoher Sopran- und Altstimmen, es gab nur wenige Rollen für tiefe Stimmen und fast gar keine Tenöre. In Frankreich lehnte man die Kastration ab; daher sind in der französischen Oper auch alle Arten von Männerstimmen in tragenden Rollen präsent. Eine typisch französische Stimmlage ist der haute-contre, ein hoher, weich geführter Tenor, beinahe eine Altlage.
Ein weiterer Unterschied ist auch die Verwendung von Chören in der französischen Oper.[Anm. 8]
Besonders auffällig im Vergleich zur italienischen Oper ist das von Lully und Lambert entwickelte französische Rezitativ. Es basiert auf der Theaterdeklamation der französischen Tragödie und ist eine Weiterentwicklung des Air de Cour. Es unterscheidet sich deutlich vom italienischen Rezitativ, das geradtaktig notiert ist, aber frei vorgetragen wurde; dagegen sind im französischen Rezitativ Taktwechsel häufig, es kommen also streckenweise verschiedene geradtaktige Metren wie C, 2 oder Allabreve und Dreiermetren wie 3/2 oder 3 (= 3/4) vor. Dabei orientiert sich der Rhythmus sehr genau am Duktus des Französischen. Rezitierte Passagen können in kleine Ariosi oder in liedhafte Airs übergehen, die Übergänge zwischen dramatischer Deklamation und (weicherem) Gesang sind also fließend. Lully verwendete sogar zweistimmige Passagen in manchen Rezitativen, und es kann auch zu Einwürfen eines Chores kommen (z. B. in Atys).[41]
Auch die französischen Airs unterscheiden sich von den Arien der italienischen Oper. Der französische Gesangsstil hatte grundsätzlich wenig gemein mit dem italienischen Belcanto, und französische Sänger hätten sich technisch nicht mit großen italienischen Kastraten und Primadonnen messen können. Typisch für die französische Oper ist ein syllabischer Gesangsstil: jede Silbe bekommt einen, nicht mehrere Töne; lange Läufe oder schwierige Koloraturen wie im italienischen Belcanto sind tabu (von seltenen Ausnahmen abgesehen, die vom Text oder der Situation motiviert sein müssen). Daher wirken die Airs der Lullyschen Tragèdie lyrique relativ einfach, abgesehen von gelegentlichen Vorhalten sowie notierten Trillern und Mordenten. (bei den Italienern gehörte die Improvisation der Verzierungen zum guten Vortrag.) Viele Airs von Lully und seinen Nachfolgern entsprechen formal einem der zeitgenössischen Tänze, wie z. B. dem Menuet oder der Gavotte, und gehen auch häufig mit dem entsprechenden Bühnentanz einher. Solche Airs können außerdem von einem Chor wiederholt werden. Die italienische Da-capo-Arie mit ihrer improvisierten Kadenz im wiederholten („da capo“) A-Teil existiert in der französischen Oper nicht.[42]
Eine berühmte Szene ist der Monolog der Armide aus der gleichnamigen Tragèdie lyrique: Enfin il est en ma puissance! (Akt II, Szene 5). Zeitgenossen wie später auch Jean-Philippe Rameau betrachteten diese Passage als das Ideal der französischen Opernkunst.
In Frankreich blieb der Stil Lullys für weitere etwa hundert Jahre bindend. Die Formen, die er der Tragédie lyrique mit ihrem Gesangsstil und dem Ballett gab, wurden nicht angetastet. Es war selbst tabu, einen Text, den Lully bereits vertont hatte, ein weiteres Mal zu vertonen. So komponierten die französischen Komponisten in der direkten Nachfolge Lullys ihre Opern ganz in seinem Stil. Zu ihnen gehörten u. a. Pascal Collasse, Marc-Antoine Charpentier, André Campra, André Cardinal Destouches, Marin Marais, und später Jean Marie Leclair, François Francœur, Jean-Joseph Cassanéa de Mondonville und Antoine Dauvergne. Erst Jean-Philippe Rameau wagte einen moderneren Stil und einige Neuerungen, vor allem im Bereich der Instrumentierung und des virtuosen Umgangs mit dem Orchester, was das Pariser Publikum teilweise in „Lullysten“ und „Ramisten“ spaltete.
Mit der Gründung des Concert spirituel 1725 in Paris und den immer öfter aufgeführten italienischen Konzerten wich die Abneigung gegen die italienische Musik.[Anm. 9] Als eine italienische Truppe Pergolesis La serva padrona in Paris aufführte, brach ein offener Konflikt zwischen den Anhängern der französischen traditionellen Oper und den Anhängern der neuen Opera buffa aus. Zeitgenossen berichten, dass es dort des Öfteren wie in Religionskriegen zugegangen sei, zumindest was die Schmähschriften betrifft. Dieser Buffonistenstreit ging in die Geschichte ein und wurde erst Jahre später durch die ersten Aufführungen der Opern Glucks beigelegt. Mit Gluck verschwand auch allmählich die Oper des Ancien Régime, Lully, Campra und Rameau wurden kaum noch gespielt. Trotzdem haben Gluck und seine Epigonen aus der dramatischen französischen Deklamation und dem syllabischen Gesang der französischen Oper, wie sie von Lully erfunden worden war, sehr viel gelernt. Das ist auch in den französischen Opern Glucks zu hören (Iphigénie en Tauride, Iphigénie en Aulide, Alceste). Es ist kein Zufall, dass seine Opernreform in Frankreich den größten und vor allem dauerhaften Erfolg hatte – das französische Publikum war auf einen dramatischen Gesang ohne Koloraturen vorbereitet.[43]
Spätestens seit den Plaisirs de l’îsle enchantée ging vom französischen Hof, von Versailles und der glamourösen Person des „Sonnenkönigs“ eine immense Faszination aus. Französische Sprache und Kultur gaben den Ton an, auch das Interesse an der französischen Musik war groß. Die Tragédie lyrique fand allerdings relativ wenig Anklang, da zur gleichen Zeit und auch zuvor die italienische Oper ihren Siegeszug angetreten hatte. Dem konnte die französische Oper mit ihrer Betonung dramatischer Deklamation und ihren im Vergleich „harmlosen“ Airs nicht genug entgegensetzen. So gab es außerhalb Frankreichs nur wenige Höfe, wo ganze Opern von Lully aufgeführt wurden.[44]
Trotzdem ließen sich manche Komponisten von der französischen Oper inspirieren. Das gilt vor allem für Henry Purcell. In England wurde die musikalische Entwicklung ab 1660 durch den frankophilen Geschmack der Stuartkönige Charles II und James II mitgeprägt; das gilt auch für die Musik von Locke, Humfrey, Blow und Purcell. In Dido and Aeneas und in seinen Semi-Operas setzt Purcell z. B. den Chor auf eine Weise ein, die auf Lully zurückgeht. Auch Arien und Tänze sind französisch beeinflusst, wenngleich mit starker englischer Eigennote. Überhaupt kann man sagen, dass die musikalischen Einlagen der Semi-Operas eigentlich Divertissements auf englische Art sind. Purcells berühmte Frostszene im dritten Akt von King Arthur (1692) geht vermutlich direkt auf den „Chor der Zitternden“ in Lullys Isis (1677) zurück. Auch einige Komponisten der frühen deutschen Oper haben sich von Lully inspirieren lassen, vor allem Reinhard Keiser.
Lullys Einfluss machte sich besonders in der barocken Orchestermusik bemerkbar: Die Ouvertüren und Tänze seiner Opern und Ballette kursierten als Suiten in gedruckter Form in ganz Europa und trugen maßgeblich zur Entstehung der Orchestersuite bei.[45] In fast jeder Musikbibliothek eines Fürsten fanden sich Abschriften der Werke Lullys. An deutschen Fürstenhöfen wurde nicht nur Lullys Musik gesammelt, sondern man beschäftigte auch französische Musiker. Selbst wenn Lullys Opern noch in der Entstehungsphase waren, so gab es schon Schwarzkopien seiner fertiggestellten Szenen, die auf dem Schwarzmarkt verkauft wurden.
Viele junge Musiker kamen nach Paris, um bei Lully zu studieren. Diese Schüler sollten zu den sogenannten europäischen „Lullisten“ werden: Pelham Humfrey, Johann Sigismund Kusser, Johann Caspar Ferdinand Fischer, Agostino Steffani, Georg Muffat und andere. Sie machten den Stil Lullys bzw. die Musik vom Hof des Sonnenkönigs vor allem in Deutschland und England populär. Nicht nur die Form der französischen Ouverture wurde verbreitet, sondern auch Tänze wie Menuet, Gavotte, Bourrée, Rigaudon, Loure, selbst so unpräzis definierte Gattungen wie die Air oder Entrée, auch die französischen Formen der Chaconne und der Passacaille verbreiteten sich in Europa.
Die Ouverturensuite „in französischer Manier“ war neben dem italienischen Concerto in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die wichtigste Orchestergattung in Deutschland, allerdings mit stilistischen Neuerungen und auch italienischen, konzertierenden Einflüssen: allen voran durch Georg Philipp Telemann, Johann Joseph Fux, Philipp Heinrich Erlebach, Johann Friedrich Fasch und Christoph Graupner. Auch die Orchestersuiten von Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel – die Wassermusik und die Musick for the Royal Fireworks – basieren auf den von Lully begründeten Formen. Händel pflegte sein Leben lang die Ouverture im französischen Stil, selbst in seinen italienischen Opern. Seine Oper Teseo (1713) basierte auf Quinaults Libretto zu Lullys Thésée und hat daher ungewöhnlicherweise fünf Akte, ist aber ansonsten eine italienische Oper mit Dacapo-Arien.
Das Menuett der klassischen Sinfonien von Haydn und Mozart geht letztlich auf Lully zurück.[46]
Grands motets
Petits motets
Ballets de cour, Mascarades und Divertissements
Intermedien, Comédies-ballets
Tragédies en musique, Pastorale, Pastorale héroïque
Personendaten | |
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NAME | Lully, Jean-Baptiste |
ALTERNATIVNAMEN | Lulli, Giovanni Battista (Geburtsname) |
KURZBESCHREIBUNG | italienisch-französischer Komponist, Geiger, Gitarrist und Tänzer |
GEBURTSDATUM | 28. November 1632 |
GEBURTSORT | Florenz |
STERBEDATUM | 22. März 1687 |
STERBEORT | Paris |